Spazieren gehen in Quarantäne

Es fühlt sich ein bisschen so an wie eine Geschlechtskrankheit. Aller Anfang ist schwer und die Kreativität wird regelmäßig von meiner Denk-Faulheit bezwungen. Diesen Start finde ich doch ganz passend. Catchy, er lässt aufhorchen und bleibt sitzen. Ich scanne Menschen. Ich glaube ganz genau zu wissen, wer alles sicher nicht infiziert ist. Meine Freunde, Menschen die mir lieb sind, können es nicht haben. Weil ich ihre Leben, ihre Lover kenne, macht es keinen Sinn, sie hätten sich angesteckt. Aber Corona lässt sich nicht vergleichen mit Chlamydien: Ich kann nicht aus der Tatsache, dass jemand keinen Scheiß baut schließen, dass sie safe sind. Ein Besuch im Supermarkt, ein unbedachter Handschlag, eine lieb gemeinte Umarmung. Infiziert. Meine größte Sorge ist nicht, dass ich selbst krank werde. Sondern dass ich öffentlich machen muss, dass ich es bin. Dass ich meinen Kontakten mitteilen muss, dass ich sie angesteckt haben könnte. Das ist unangenehm, die Reaktion der anderen auf die Tatsache, dass ich ihre Freiheit eingeschränkt habe, ihr Wohlbefinden gefährdet. Wie Chlamydien. Peinlich.

Quarantäne fühlt sich an wie Gefängnis. Und wenn ich jetzt zweimal am Tag vor die Tür gehe, dann fühlt sich das an wie Schummeln - unfair, als würde ich es nicht durchziehen, als würde ich mich nicht an die Regeln halten. Wenn ich jetzt spazieren gehe, fühlt es sich so an, als würde es überhaupt keinen Unterschied mehr machen, mich in ein Café zu setzen oder mit Freunden zu treffen. Ich bin ja schon draußen, ich habe meine Zelle ja schon verlassen, ich mache es ja schon falsch. Dabei geht es genau darum, dass ich alleine bin. Dieses Alleinsein macht aber keinen Sinn, wenn man in der Stadt ist, andere Leute sieht - so viele Fremde ziehen an mir vorbei. Alle allein.

Man sieht sich aus der Ferne an, hat vielleicht Blickkontakt. Irgendwas daran ist verboten. Irgendwie ist es böse, sich tatsächlich anzusehen. Da fährt ein Auto, dort geht ein Pärchen spazieren. Es herrscht eine wundersame Scheinwelt. Wir wissen, welcher Etiquette wir zu folgen haben, und befolgen sie automatisch. Als würden wir absichtlich vereinsamen. Nicht mehr eigenständig denken, nach einer Software handeln, nicht aus Gefühl.

Wir halten brav einen Meter Abstand, wenn wir uns begegnen. Und wenn wir uns ganz nahe sind, dann schauen wir weg. So als würden wir uns schämen, dass wir in unserem einsamen Spaziergang einer anderen Seele begegnen. In der Isolation weicht das Soziale Gefühl dem Egozentrismus. Entweder brechen wir irgendwann aus Verzweiflung Barrieren oder werden sonderlich mit uns selbst.

Ich halte bei jedem vorbeigehenden Menschen die Luft an, gehe mit Handschuhen einkaufen. Wenn ich telefoniere, höre ich auf zu sprechen, wenn mir jemand begegnet, um die Tröpfcheninfektion zu verringern. Ich sehne mich nach Chailatte, nach Kaffee, nach irgendetwas, das ich mir zuhause nicht zubereiten kann. Ich kann mir alles zuhause zubereiten, aber es schmeckt nicht, wie es soll. Es schmeckt nicht nach Freiheit, es schmeckt nach Zwang.

Dann fühle ich mich wie auf Urlaub. Als wäre ich gerade gar nicht in Graz, gar nicht daheim. Als wäre ich auf Kreativreise in einer fremden Stadt, einem fremden Land, um mich selbst zu finden. Der Frühling ist ausgebrochen über Nacht und die Straßen riechen nicht wie zuvor. Die Sonne ist stärker und die Atmosphäre durch den Virus fremd. Es ist eine schöne Auszeit aus dem Alltag und doch unheimlich. Alles wirkt neu, scheint anders, ist nicht mehr wie es war. Graz ist nicht mehr Graz. Noch ist es erfrischend. Mal sehen, wie lange - wenn das Unheil nicht weiterzieht, sondern bleibt. Immerhin: Zeit zu Schreiben.

© Dirk Hartung

© Dirk Hartung

Sarah Kampitsch