Deine Welt prägt mich

Lieber Papa,

Wenn der Wind stärker wird, die Jacken dicker, die Stimmung drückender und der Wald bunt - dann strömt eine Welle von Nostalgie in mein Gemüt, die ich liebe und der ich gleichermaßen ausgeliefert bin. Ich mag, was ich erlebt habe und vermisse melancholisch schön, wozu ich mich nie bewegen konnte.

Ich lebe so anders als du, dass es leicht so wirkt, als wäre mir deine Welt nicht wichtig. Ich habe die, in der ich aufgewachsen bin, nicht zurückgelassen oder verdrängt. Deine Welt prägt mich mehr als du denkst.

So alternativ sich meine Neigungen auch ausgeprägt haben: Ihr Ursprung kommt sicherlich von daheim, egal wie divers ich sie heute auch auslebe. Der Veganismus ist kein Protest an eurer Lebensweise, er resultiert aus den starken Moralvorstellungen, dem starken Wertesystem, das ich von klein auf von dir mitbekommen habe. Du tust nichts, wovon du nicht überzeugt bist. Wenn dir etwas gegen den Strich geht, dann stehst du dazu - auch wenn das unter Umständen bedeutet, dich aus einer Gruppe auszuschließen. Ich hatte nie ein Problem mit Gruppenzwang. Je heftiger der Sog, desto sturer habe ich mich ihm entrissen. Es sind die Werte aus deinem Haus, die mich heute zu dem machen, was ich bin: Ich selbst. Weil ich weiß, dass ich mich nicht anpassen muss, immer sein durfte, wer ich wollte und dafür geschätzt werde, anders zu sein. Ich propagandiere Nachhaltigkeit, wie ihr sie nicht kennt, aber kenne meine doch aus eurem Garten. Es ist das in die Wiege gelegte Gedankengut, dass mich zur Naturkosmetik bringt, zur Ethnologie, zum sozialen Tatendrang. Der Hang zur Kreativität, die Selbstpräsentation im gesellschaftlichen Rollenspiel, die Liebe zur Ästhetik - all das entspringt deiner Feder.

Ich bin gerne diejenige, die flügge ist und mit einem Hintern auf vier Kirchtagen tanzt, wie du so schön sagst - oder auf multikulturellen Technofestivals und Klimademos. Ich bin gerne diejenige, die Geschichten für euch mitlebt, die ihr für euch nie schreiben wolltet. Ich sehe es sogar als meine Aufgabe, möglichst viel Verrücktes zu tun, das euch beim nächsten Kaffee wieder ein Schmunzeln ins Gesicht treibt.

Daheim sein ist schwer für mich, weil es mich emotional zurückkatapultiert in die Person, die ich als Kind immer war und die ich nicht so mochte. Daheim bin ich schwach, werde ich krank, fühle mich unecht. Nicht, weil ihr mich falsch erzogen habt, überhaupt nicht wegen euch. Ich lerne von euch, durch euch hatte ich die schönste Kindheit und wegen euch darf ich mich heute so reflektiert und selbstkritisch verwirklichen, wie ich das tue. Aber Land ist schwer, Kärnten ist tragisch und die Luft im Dorf hält mich fest. Zum frei sein muss ich fliegen. Wenn ich falle, tragt mich heim. Gebt mir Liebe und schickt mich fort.

Es ist nicht so, dass ich nicht da sein will - in Gedanken bin ich oft daheim. Ich hänge fest an der Idee einer makellosen Kindheit, Nostalgie führt mich zu Vintage und Glockenhosen. Im Winter riecht meine Welt nach Keksen und Kastanien, im Herbst sehe ich uns beim Drachensteigen im Feld, im Sommer denke ich an Ballspiele auf sonnengewärmten Fliesenböden und im Frühling klingt Vogelgesang und dein Pfeifen in meinen Ohren. Meine Alternativität kommt nicht von ungefähr: Sie steckt im Vergangenen, sie steckt daheim. In einer analogen, nostalgischen, melancholischen Welt. Du hast geprägt. Anders als du wolltest zwar, aber du hast.

© Sarah Kampitsch

© Sarah Kampitsch

Sarah Kampitsch